Definition und Darstellungsweisen
Definition
Die Bewegung eines materiellen Punktes wird mit der Bewegungsfunktion

beschrieben. Der Vektor
ist die aktuelle Position des materiellen Punktes
zur Zeit
in der Momentankonfiguration. Genauer ist
die Position des betrachteten materiellen Punktes in der undeformierten Ausgangs- oder Referenzkonfiguration des Körpers zu einer Zeit
. Bei festgehaltenem materiellen Punkt
beschreibt die Bewegungsfunktion dessen Bahnlinie durch den Raum. Im kartesischen Koordinatensystem mit der Standardbasis {
} hat der Punkt
die komponentenweise Darstellung

und entsprechend gilt
. Um zu untersuchen wie sich die aktuelle Position ändert, wenn die Position in der undeformierten Ausgangslage variiert, wird die Ableitung gebildet:
für
.
Die Funktionen
sind die Komponenten des Deformationsgradienten bezüglich des Basissystems
.
Um zu einer koordinatenfreien Darstellung zu gelangen, wird das dyadische Produkt
benutzt:
.
Darin ist
der Deformationsgradient und
ist der Operator für den materiellen Gradienten, denn es wird nach den materiellen Koordinaten
differenziert.
Abbildung 3: Transformation von Linienelementen durch den Deformationsgradient
Der Deformationsgradient kann auch mit der Richtungsableitung

dargestellt werden, was seine Transformationseigenschaften der Linienelemente
verdeutlicht, siehe Abbildung 3.
Definition
Abbildung 4: Tangentenvektoren (schwarz) an materielle Linien

spannen Tangentialräume auf (gelb). Die zu den Tangentenvektoren dualen Gradientenvektoren sind blau dargestellt.
Mathematisch ist das Differential
in

Element des Tangentialraumes
im Punkt
des Raumes
, den der undeformierte Körper in der Ausgangskonfiguration einnimmt (in Abbildung 4 oben). Das Differential
ist entsprechend ein Element des Tangentialraumes
im Punkt
des Raumes
, den der deformierte Körper in der Momentankonfiguration einnimmt (im Bild unten). Damit wird der Deformationsgradient zur Abbildung
.
Darstellung in konvektiven Koordinaten
Werden jedem materiellen Punkt
über eine Referenzkonfiguration konvektive Koordinaten
zugeordnet, bilden die Tangentenvektoren
bzw. 
kovariante Basen der Tangentialräume
im Punkt
bzw.
im Punkt
(in Abbildung 4 schwarz dargestellt). Die Gradienten der konvektiven Koordinaten
bzw. 
bilden kontravariante Basen, die zu den kovarianten dual sind (in Abbildung 4 blau dargestellt).
In diesen Basissystemen ausgedrückt bekommt der Deformationsgradient die besonders einfache Form
.
In dieser Darstellung lässt sich auch sofort mit
.
die Inverse des Deformationsgradienten angeben. Der transponiert inverse Deformationensgradient bildet die kontravarianten Basisvektoren aufeinander ab:
.
Der räumliche Deformationsgradient
Zumeist wird der Deformationsgradient wie oben in seiner materiellen Darstellung formuliert. Gelegentlich wird aber auch der räumliche Deformationsgradient benutzt. Wegen
kann der Deformationsgradient invertiert und das Ergebnis über
als Funktion der räumlichen Koordinaten
ausgedrückt werden:
.
Der räumliche Deformationsgradient
bildet dann das Linienelement
auf das Linienelement
ab:
.
Entsprechend hat der räumliche Deformationsgradient in konvektiven Koordinaten die Form
.
Geometrische Linearisierung
→ Hauptartikel: Verschiebungsgradient
In der Festkörpermechanik treten in vielen Anwendungsbereichen nur kleine Deformationen auf. In diesem Fall erfahren die Gleichungen der Kontinuumsmechanik eine erhebliche Vereinfachung durch geometrische Linearisierung. Dazu werden die Verschiebungen
betrachtet, die ein materieller Punkt
im Laufe seiner Bewegung erfährt. Weil
die aktuelle Position des Punktes ist, der in der Ausgangskonfiguration die Position
hatte, ist die Verschiebung die Differenz
.
Der materielle Gradient der Verschiebungen ist der Tensor
.
und wird Verschiebungsgradient genannt. Wenn
eine charakteristische Abmessung des Körpers ist, dann wird bei kleinen Verschiebungen sowohl
als auch
gefordert, so dass alle Terme, die höhere Potenzen von
oder
beinhalten vernachlässigt werden können. In diesem Fall ergeben sich die folgenden Zusammenhänge:
.
Die Tensoren
und
kommen in der polaren Zerlegung vor, siehe unten.
Transformationseigenschaften
Polare Zerlegung
Abbildung 5: Polare Zerlegung des Deformationsgradienten
Der Deformationsgradient
lässt sich eindeutig "polar" in eine Rotation und eine reine Streckung zerlegen. Durch Anwendung der Polarzerlegung resultiert die Darstellung
.
Dabei ist
ein "eigentlich orthogonaler Tensor". Der materielle rechte Strecktensor
und der räumliche linke Strecktensor
sind symmetrisch und positiv definit. (Eselsbrücke:
steht rechts von
und
links davon in der polaren Darstellung.)
Anschaulich bedeutet die polare Zerlegung eine Hintereinanderschaltung zweier Transformationen: Im einen Fall eine rotationsfreie Streckung
mit anschließender Drehung
und im anderen Fall eine Drehung
mit anschließender rotationsfreier Streckung
so wie sie in Abbildung 5 dargestellt sind.
Der rechte Strecktensor berechnet sich gemäß

aus der Hauptachsentransformation von
, ziehen der Wurzel der Diagonalglieder und Rücktransformation, siehe auch das Beispiel unten. Entsprechend gilt für den linken Strecktensor
.
Der Rotationstensor
ergibt sich dann aus
.
Linien-, Flächen- und Volumenelemente
Mit Hilfe des Deformationsgradienten können Integrale in der materiellen Darstellung in die räumliche umgerechnet werden. Die zu integrierende Größe sei ein Feld
das skalar-, vektor- oder tensorwertig sein kann und in der materiellen Darstellung
und der räumlichen

vorliege. Dann gelten die Identitäten:
.
Der Operator
bildet die Determinante und
die transponiert Inverse.
ist eine materielle Linie in der Ausgangskonfiguration und
die zugehörige räumliche in der Momentankonfiguration. Die Oberfläche
des Körpers in der Ausgangskonfiguration hat das Oberflächenelement
, d. h. die mit dem Flächenstück
multiplizierte Normale
des Flächenstücks. Gleiches gilt für das räumliche Flächenelement
auf der Oberfläche
des Körpers in der Momentankonfiguration. Diese Transformationen sind bei der Zeitableitung der Integrale auf den linken Seiten der Gleichungen nützlich, weil die Gebiete auf den linken Seiten von der Zeit abhängen nicht so aber auf den rechten Seiten.
Volumenverhältnis
Die Determinante von
gibt das lokale Volumenverhältnis
im betrachteten materiellen Punkt bei der Deformation an.
Damit ergibt sich u. a., dass
positiv sein muss, sonst wäre die Deformation physikalisch nicht möglich (Inversion des materiellen Punktes).
Bleibt bei einer Deformation das Volumen erhalten, also
, liegt Inkompressibilität vor. Bei Gummi- oder Elastomer-Werkstoffen ist dies eine übliche Annahme in der kontinuumsmechanischen Beschreibung und durch das Verhalten dieser Werkstoffklasse annähernd der Fall. Gleiches gilt für die inkompressiblen Flüssigkeiten.
Transformation von Tensoren
Der Deformationsgradient transformiert neben den Linien-, Flächen- und Volumenelementen auch Tensoren von der Ausgangskonfiguration in die Momentankonfiguration. Diese Transformationen sind für kovariante Tensoren (oftmals Verzerrungstensoren) und kontravariante Tensoren (oftmals Spannungstensoren) unterschiedlich, z. B.:
.
Der Tensor

ist der Euler-Almansi-Verzerrungstensor in der Momentankonfiguration,

der Green-Lagrange’sche Verzerrungstensor in der Ausgangskonfiguration,

der gewichtete Cauchy’sche Spannungstensor,
der Cauchy’sche Spannungstensor (beide in der Momentankonfiguration) und

der zweite Piola-Kirchhoff’sche Spannungstensor in der Ausgangskonfiguration. Das Skalarprodukt ":" der so einander zugeordneten Tensoren wird von der Transformation nicht verändert, z. B.:
.
Multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten
Die Multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten wird in Materialtheorie angewendet, um die Deformation eines Körpers auf Grund verschiedener Einflüsse zu modellieren. So kann sich ein Körper deformieren, weil er erwärmt wird oder einer äußeren Kraft ausgesetzt wird. Die Deformation kann zusätzlich davon abhängen, wie schnell die Temperatur oder Kraft aufgebracht wird. Die Reaktionen des Materials lassen sich einfacher modellieren, wenn die Phänomene voneinander getrennt betrachtet werden. So kann ein Modell den Einfluss der Temperatur nachbilden und ein anderes Modell die isotherme Verformung durch Kräfte. Die Deformationen aufgrund des einen oder anderen Phänomens können dann anschließend wieder zusammengeführt werden. In der Materialtheorie hat es sich durchgesetzt bei kleinen Verformungen eine additive Zerlegung der Dehnungen und bei großen Verformungen eine multiplikative Zerlegung des Deformationsgradienten zu benutzen.
Seien also a und b zwei Verformungsanteile eines Materials. Für die Modellbildung wird der Deformationsgradient multiplikativ zerlegt:
.
Ein Modell beschreibt dann die Entwicklung des Anteils
auf Grund des Einflusses a und ein anderes Modell die Entwicklung des Anteils
auf Grund des Einflusses b. Die Deformationsgradienten
und
erfüllen im Allgemeinen nicht die Kompatibilitätsbedingungen weswegen es im Allgemeinen kein Bewegungsfeld gibt, aus dem die beiden Anteile per Gradientenbildung abgeleitet werden können.
Weil der Deformationsgradient, wie im vorigen Abschnitt erläutert, Tensoren von einer Konfiguration in die andere transformiert, entspricht die multiplikative Zerlegung der Einführung einer Zwischenkonfiguration. Die Tensoren der Referenzkonfiguration werden mit dem Anteil
und die der Momentankonfiguration mit
in die Zwischenkonfiguration transformiert. Transformation des Green-Lagrange’schen Verzerrungstensors von der Referenzkonfiguration in die Zwischenkonfiguration liefert:

Der in die Zwischenkonfiguration transformierte Green-Lagrange’sche Verzerrungstensor zerfällt also in zwei Anteile:
- Ein Anteil
ist vom Green-Lagrange-Typ und wird mit
gebildet.
- Der andere Anteil ist vom Euler-Almansi-Typ und wird mit
gebildet.
Gleiches gilt, wenn der Euler-Almansi Tensor
mit
auf die Zwischenkonfiguration transformiert wird:

In der Zwischenkonfiguration können nun die beiden Phänomene mit den Verzerrungstensoren
und
getrennt modelliert werden. Der sich im Modell in der Zwischenkonfiguration ergebende Spannungstensor wird anschließend mit
in die Momentankonfiguration oder mit
in die Referenzkonfiguration transformiert.
Deformationsraten
→ Hauptartikel: Geschwindigkeitsgradient
Die materielle Zeitableitung des Deformationsgradienten

ist ein Maß für die Deformationsgeschwindigkeit. Sie hängt über

mit dem räumlichen Geschwindigkeitsgradient
des räumlichen Geschwindigkeitsfeldes
zusammen. In konvektiven Koordinaten lautet das

Beispiel
Abbildung 6: Scherung eines Quadrates (lila) in ein Parallelogramm (rot). Die Scherung ist eine reine Streckung (königsblau) mit anschließender Drehung oder eine Drehung (hellblau) mit anschließender Streckung
Die Berechnung des Deformationsgradienten und seiner polare Zerlegung wird anhand der Scherung eines Quadrates vorgeführt.
Ein Quadrat der Kantenlänge eins wird zu einem flächengleichen Parallelogramm mit Grundseite und Höhe eins verformt, siehe Abbildung 6. Die Punkte des Quadrates haben in der Ausgangskonfiguration die Koordinaten
.
Die Neigung des Parallelogramms sei
.
Dann sind die räumlichen Koordinaten der Punkte gegeben durch
.
Wie üblich wird
mit
und
mit
identifiziert. Dann bekommt man den Deformationsgradient durch Ableitung:
.
Die Richtungsableitung liefert über
![{\begin{array}{lcl}{\mathbf {F}}\cdot {\begin{pmatrix}{\mathrm {d}}X\\{\mathrm {d}}Y\end{pmatrix}}&=&{\dfrac {\partial }{\partial s}}{\vec {\chi }}\left.\left({\begin{pmatrix}X\\Y\end{pmatrix}}+s{\begin{pmatrix}{\mathrm {d}}X\\{\mathrm {d}}Y\end{pmatrix}},t\right)\right|_{{s=0}}=\left.{\dfrac {\partial }{\partial s}}{\begin{pmatrix}(X+s{\mathrm {d}}X)+{\frac {5}{6}}(Y+s{\mathrm {d}}Y)\\(Y+s{\mathrm {d}}Y)\end{pmatrix}}\right|_{{s=0}}\\[3ex]&=&{\begin{pmatrix}{\mathrm {d}}X+{\frac {5}{6}}{\mathrm {d}}Y\\{\mathrm {d}}Y\end{pmatrix}}={\begin{pmatrix}1&{\frac {5}{6}}\\0&1\end{pmatrix}}{\begin{pmatrix}{\mathrm {d}}X\\{\mathrm {d}}Y\end{pmatrix}}\end{array}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/1163d767b4bd47c6c43180e4901165ba10eb5ad4)
dasselbe Ergebnis. Der Deformationsgradient ist hier vom Ort und der Zeit unabhängig und hat die Determinante eins, was den Erhalt des Flächeninhalts bestätigt. Der rechte Strecktensor
berechnet sich aus dem rechten Cauchy-Green-Tensor

über Hauptachsentransformation, ziehen der Wurzel der Diagonalglieder und Rücktransformation. Für die Hauptachsentransformation braucht man die Eigenwerte
und -vektoren
von
. Man findet:
.
Mit diesen Eigenwerten und -vektoren erhält man die Hauptachsentransformation
![{\begin{array}{lcl}{\mathbf {C}}&=&\displaystyle \sum _{{i=1}}^{{2}}\lambda _{{i}}{\vec {v}}_{{i}}\otimes {\vec {v}}_{{i}}=\left(\sum _{{j=1}}^{{2}}{\vec {v}}_{{j}}\otimes {\vec {e}}_{{j}}\right)\cdot \left(\sum _{{i=1}}^{{2}}\lambda _{{i}}{\vec {e}}_{{i}}\otimes {\vec {e}}_{{i}}\right)\cdot \left(\sum _{{k=1}}^{{2}}{\vec {e}}_{{k}}\otimes {\vec {v}}_{{k}}\right)\\[3ex]&=&{\dfrac {1}{{\sqrt {13}}}}{\begin{pmatrix}2&3\\3&-2\end{pmatrix}}{\begin{pmatrix}{\frac {9}{4}}&0\\0&{\frac {4}{9}}\end{pmatrix}}{\dfrac {1}{{\sqrt {13}}}}{\begin{pmatrix}2&3\\3&-2\end{pmatrix}}\end{array}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/4f742c86e03e44df3aa602f2f39278f52a09a5d6)
und damit den rechten Strecktensor
.
Mit seiner Inversen

ergibt sich der Rotationstensor
,
siehe Drehmatrix. Der Rotationstensor dreht das im Bild königsblaue Parallelogramm oder hellblaue Quadrat um den Winkel
.
Den linken Strecktensor kann man nun einfacher aus

ermitteln.
Literatur
- H. Altenbach: Kontinuumsmechanik. Springer 2012, ISBN 978-3-642-24118-5.
- P. Haupt: Continuum Mechanics and Theory of Materials. Springer Verlag, 2000, ISBN 3-540-66114-X.